5. Mai 2023

BRD 9

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Spielfilmen

(Was bisher geschah)

9 | Eine optimistische Tragödie von und mit Olaf Scholz ... 2021 ff.

Fortsetzung folgt. Vielleicht.

8. Januar 2023

Standbild (25)

Schienen

Außen. Bahnstrecke. Tag. Von einem nebelhaften Himmel überwölbt verläuft die eingleisige Trasse schnurgerade zwischen zwei grasbewachsenen Dämmen, zur Linken flankiert von einer Reihe schlanker hölzerner Telegrafenmasten, zur Rechten eingewachsen von niedrigem Gebüsch, aus dem ein junger, winterlich unbelaubter Baum ragt. Auf dem Gleiskörper, genauer gesagt auf den Bahnschwellen, steht ein kleiner Mann mit dünnem, seitlich gescheitelten Haar, der einen kastigen, zweireihigen Wintermantel aus schwerem Fischgrätstoff trägt. Den breiten Kragen des Kleidungsstücks gegen die offensichtlich herrschende Kälte bis unter die Ohren hochgeschlagen, hat der Mann seine linke Hand tief in der Manteltasche versenkt, während er die rechte vor das faltenzerfurchte Gesicht hält, so als wolle er seine sowieso geschlossenen Augen vor einem schrecklichen Anblick bewahren. Indessen nähert sich von hinten, aus der Tiefe des Raumes heranrasend, eine rußgeschwärzte Dampflokomotive. Ihrem Schlot entsteigt dichter weißer Rauch, ihre gewölbten Windleitbleche scheinen den auf den Schienen stehenden Mann, einen Arzt, der vor Jahren unter bedrückenden Umständen im Affekt zum Mörder an der Geliebten wurde, der später denjenigen, welcher ihn mutmaßlich ins Verderben trieb, kaltblütig ums Leben brachte, sie scheinen diesen von den Zeitumständen zum Monster Gemachten, der nun selbst den erlösenden Tod erwartet, gleichsam liebevoll zu umarmen.

7. Januar 2023

Standbild (24)

Kikeriki

Innen. Revuelokal. Nacht. Den kleinen, mit Schiffstauen dekorierten Saal bevölkert ein sehr gemischtes Publikum: gutbürgerliche Herren mittleren Alters, Arbeiter, Seeleute, Gaunertypen, dazwischen einige Frauen, manche damenhaft, die meisten eher proletarisch wirkend, mit gebrannten Locken und tiefen Blusenausschnitten. Ein Teil der Zuschauer sitzt auf Kaffeehausstühlen an Tischen, die schier überquellen von halbvollen Gläser und Bierschalen, die anderen betrachten das Bühnengeschehen stehend, mit gereckten Köpfen, die Körper aufmerksam vorgebeugt. Das Podium wird gerahmt von zwei filigranen Beistelltischen mit Fransendecken, das linke trägt einen Henkelkorb, eine Ballonflasche und ein Metallgefäß, über das ein zerbeulter Zylinderhut gestülpt ist, auf dem rechten liegt ein Haufen von einfarbigen Stoffen und Kleidungsstücken. Vom Schnürboden hängen drei große Anker herab, den Hintergrund der Szene bildet ein gebauschter Voilevorhang, hinter dem schemenhafte Lichter zu erkennen sind, die möglicherweise ein überdimensioniertes Gesicht mit fächerförmigem Kopfputz darstellen, vielleicht auch eine nächtliche Großstadt mit erleuchteten Fenstern. In der Bühnenmitte stehen nebeneinander zwei etwa gleichgroße Männer, beide von einer gewissen Korpulenz gekennzeichnet. Links produziert sich ein etwas schmieriger Elegant um die vierzig mit stolzgeschwellter Brust und feistem Gesicht. Auffallend sind seine prallen Wangen, die fleischigen Lippen und der boshaft stechende Blick. Er trägt einen schwarzen Frack, schmal geschnittene Hosen, spitze Schuhe, Weste, weißes Hemd, weißen Binder und einen hochglänzenden Zylinder. In seiner erhobenen rechten Hand hält er ein Hühnerei. Der andere, etwa zehn Jahre ältere, Mann ist bekleidet mit einem unförmigen, knielangen Kittel und schlackernden Hosen aus kleinkariertem Stoff, tütengroßen Manschetten und einem riesigen steifen Kragen, der mit einer absurd kleinen Fliege zusammengebunden ist. Aus dem Kragen ragt ein kugelförmiger, grotesk geschminkter Kopf mit Halbglatze und zerzaustem Haarkranz, Knebelbart und angeklebter dicke Nase. Dieser traurig vor sich hinstarrende Clown unterrichtete einstmals als Professor an einem Gymnasium, bevor er einer Tingeltangelsängerin verfiel, diese heiratete und seinen Beruf aufgab, um sich der reisenden Varieté-Truppe anzuschließen. Zu einem Gastspielauftritt in seine Heimatstadt zurückgekehrt, muß sich die ehemalige Autoritätsperson nun vor den früheren Mitbürgern ein rohes Ei an die Stirn schlagen lassen und hat, solchermaßen gedemütigt, einen Hahnenschrei zu imitieren.

5. Januar 2023

Märchen aus der Wirklichkeit (Nachtrag)

Noch ein Meisterwerk von Rudolf Thome (Regie) und Max Zihlmann (Buch)

Vor langer Zeit habe ich über drei Filme von Thome und Zihlmann geschrieben (hier) – heute geht es um ein weiteres Werk des Gespanns, mit dem die fruchtbare Zusammenarbeit zu einem vorläufigen Abschluß kam. Der Text versteht sich auch als kleines Memento für Roger Fritz und Max Zihlmann, zwei Protagonisten der »Münchner Schule«, die beide unlängst verstorben sind.
 

1972 | »Fremde Stadt«

»Man with a million – but what to do?« Ein Mann (Roger Fritz) kommt mit dem Intercity am Münchner Hauptbahnhof an. Souverän bewegt er sich durch die Menge, groß, gutaussehend, mittellanges Haar, Trenchcoat. Er nimmt ein Taxi und läßt sich zu einem Hotel fahren. Es ist ihm egal, wo er wohnt: »Ich bin fremd hier.« Den Koffer trägt er lieber selbst aufs Zimmer. Darin sind zwei Millionen D-Mark, die Beute eines Banküberfalls in Düsseldorf. Der Mann – ein gewesener stellvertretender Filialleiter, der den eigenen Tod im Indischen Ozean inszenierte – betrachtet sein Gesicht im Spiegel und sagt zu sich: »Philipp ... Philipp Kramer. Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.« Der Mann begibt sich auf die Suche nach einer Frau, Sybille Lerchenfeld, seiner Verflossenen (Karin Thome), die ihn unter dem Namen Franz kannte. Er trifft sie mit dem gemeinsamen Sohn vor einer Schule. Sie fragt: »Phlipp Kramer – wer ist das?« Er antwortet: »Ein Mann mit Zukunft.« ... Eine B-Film-Variation in Schwarzweiß und CinemaScope, ein ironisch-saloppes Spiel mit Motiven und Settings, mit Klischees und Schablonen, ein Kriminalfilm ohne vordergründigen Thrill (»Würdest du auf jemanden schießen?« – »Das kann man vorher nicht sagen.«), ein Beziehungsfilm ohne menschliches Drama (»Na, du Bankräuber.« – »Gangsterbraut!«), ein Genrefilm ohne gattungsmäßige Festlegung (»Das ist alles zu viel für mich.« – »Für mich auch.«). Thome und Zihlmann erzählen einerseits trocken, fast emotionslos registrierend, andererseits voller Lust auf Abschweifungen, mit aller Zeit der Welt für Randbeobachtungen und Nebenfiguren, wie etwa den Zimmerkellner, der eigentlich Schauspieler werden wollte, die Barbekanntschaft, die Captagon einwirft, um beim Flirten nicht einzuschlafen, den Untermieter, der Zierfische züchtet und damit eines Tages reich zu werden hofft. Verwicklungen ergeben sich durch weitere (mehr oder weniger schrullige) Personen, die dem Raubgut nachjagen: ein Kriminalbeamter, der Spekulationsschulden zu begleichen hat, ein anderer Polizist, der von einer Weltumseglung träumt, ein Gaunerpärchen, das im Porsche Ralleys fahren will. Geld als Projektionsfläche für Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte, als Treibstoff für Verwandlungen: »Ich bin ein anderer«, erkennt Philipp alias Franz, der als neuer Mensch in Liebes- und Lebensdingen an früher anknüpfen kann, ohne in alte Muster zurückzufallen. Als es nach einer Verfolgungsjagd durch die labyrinthische B-Ebene unter dem Stachus zum Showdown auf der benachbarten U-Bahn-Baustelle kommt, wirkt das Geld gar als mirakulöser Impulsgeber für eine (zunächst im kleinen Kreis erprobte) soziale Utopie: »Warum teilen wir nicht?« – »Ja, warum nicht?« – »Wir fangen am besten mit den großen Scheinen an.«

3. September 2022

Standbild (23)

Paar

Innen. Wohnschlafzimmer. Tag. Die Wände des mit feingeripptem Sisalteppich ausgelegten Raums sind weiß gestrichen, die bewußte Kargheit der funktionalen Einrichtung wird durch einige dekorative Elemente aufgelockert. An der mittleren Wand stehen, fast in die linke Zimmerecke gerückt, ein schlichtes, einfarbig bezogenes Zweisitzer-Sofa und ein ebenso breiter einfacher Tisch mit weiß beschichteter rechteckiger Platte und Beinen aus schwarzem Vierkantrohr. Darüber hängt eine höhenverstellbare Deckenlampe mit hellem, halbkugelförmigen Stoffschirm. Auf einem oberhalb der Sitzecke mittels Metallwinkeln an der Wand befestigten Bord reihen sich zahlreiche Bücher, ein Tintenfaß, in dem eine lange Feder steckt, ein Becher mit Stiften, mehrere Massefiguren sowie ein zylindrisches Glasgefäß, das Kieselsteine enthält. Das Sofa wird flankiert von einer Miniaturharfe und einem vertikalen Arrangement von vier kleinen Motivtellern des italienischen Künstlers Piero Fornasetti, die gestalterische Abwandlungen ein und desselben puppenhaften Frauengesichts zeigen. Rechts davon gewährt eine offenstehende Kassettentür Sicht in einen schmalen Korridor. An der rechten Zimmerwand, in geringem Abstand vor einer breiten Nische, in die ein Rippenheizkörper eingelassen ist, steht eine schmucklose hölzerne Kommode mit drei Schubladen und einer Doppeltür. Auf dem Möbel haben ein Phonosuper SK 4, eine Radio-Plattenspieler-Kombination des Elektrogeräteherstellers Braun, volkstümlich als Schneewittchensarg bezeichnet, eine kleine Vase in Urnenform, ein aufgeklappter Reisewecker und eine Nachttischlampe mit röhrenförmigem Glaskörper ihren Platz, darüber hängt, stilvoll gerahmt, das ovale Bildnis eines jungen Herrn aus der Biedermeierzeit. Noch weiter rechts, unter der expressiven Darstellung eines traurig lächelnden Clowns, befindet sich eine mit dunklem Breitcord bezogene Bettcouch, neben der auf dem Teppichboden ein Paar flache Spangenpumps sowie ein schwarzer Fernsprechapparat vom Typ W 48 abgestellt wurden. Auf dem Sofa sitzt, breitbeinig und die Arme im Schoß verschränkt, ein Mann von ungefähr dreißig Jahren mit kurzgeschnittenen dunklen Haaren. Gekleidet in einen korrekten grauen Anzug und ein weißes Hemd mit schwarzer Krawatte, blickt er diagonal durch den Raum hinüber zur Bettcouch, auf der, mit abgewandtem Kopf und geschlossenen Augen, eine etwa fünfundzwanzigjährige blonde Frau liegt. Sie ist bekleidet mit einem hellgrauen Strickpullover, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hinaufgeschoben sind. Über ihre Beine und ihren Bauch ist eine großkarierte Decke gebreitet. Der Mann und die Frau leben zusammen, ohne verheiratet zu sein. In der festen Überzeugung, daß er sich kein Kind wünschen würde, hat sie wenige Stunden zuvor eine Abtreibung vornehmen lassen, ohne ihn, der, zu spät um den Eingriff verhindern zu können, von einer gemeinsamen Bekannten über die Angelegenheit informiert wurde, von ihrer Schwangerschaft wissen zu lassen.

26. August 2022

Standbild (22)

Elbe

Außen. Strand. Tag. Ein bewölkter, blaßblauer Himmel überspannt den von flachen, grasbewachsenen Dünen gesäumten Uferstreifen. Nur wenige Meter vom Wasser entfernt sitzen zwei schlanke, elegant gewandete Reitersleute zu Pferde, links eine schöne, dezent geschminkte Frau von etwa dreißig Jahren im Damensattel auf einem Rappen, rechts ein circa vierzigjähriger Mann mit schmalem Oberlippenbart und markantem Kinngrübchen auf einem Schimmel. Die Frau trägt eine schwarze Melone, unter der ihr blondes, leicht gewelltes Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden ist, hervorschaut, dazu ein silbergraues Kostüm mit gerade geschnittenem, wadenlangen Rock und rehbraune Handschuhe. In der rechten Hand hält sie eine lederne Gerte mit kugelrundem Knauf. Der Mann ist bekleidet mit einen weichen, kurzkrempigen, lichtgrauen Filzhut, einem taillierten gelbgrauen Sakko, staubgrauen Reithosen und weißen Handschuhen. Seine linke Hand faßt einen schlanken Stock aus hellem Holz, dessen oberes und unteres Ende glänzende Silberspitzen zieren. Die beiden Berittenen tragen jeweils schwarze Stiefel und, im Ausschnitt ihrer einreihig geknöpften Jacketts, weiße, schalartig gebundene Seidentücher. Sie halten die Köpfe leicht gesenkt und blicken auf eine im Sand liegende, leuchtend rote Rosenblüte, die kurz zuvor noch das Revers der Frau schmückte, nun aber von den anbrandenden Wellen des Flusses umspült wird. Das Paar gedenkt der verstorbenen Geliebten des Mannes, der bis vor nicht allzu langer Zeit Tag für Tag am Haus der unheilbar herzleidenden Freundin vorüberritt, um tröstend zu ihrem Fenster hinaufzugrüßen, und, als er selbst an Typhus schwer erkrankt darniederlag, von seiner zu diesem Zweck in Männerkleidung kostümierten Gattin edelmütig vertreten wurde.

Standbild (21)

Loft

Innen. Fabriketage. Tag. Von links, durch ein hohes, aus dünnen Metallprofilen gefertigtes Sprossenfenster, fällt kaltes Tageslicht in einen weiten, fast unmöblierten Raum mit glatt verputzter Decke, Wänden aus weiß gestrichenem Mauerwerk und unbehandeltem Dielenboden. An der mittleren Wand, auf die jemand mit schwarzer Farbe den Slogan »Fuck art!! Let’s dance« gesprüht hat, lehnen ein zusammengeklappter Biergartenstuhl und ein Besen, daneben stehen ein weißer Pappkarton, eine prall gefüllte Tüte sowie ein weiterer Klappstuhl, auf den ein zusammengeknülltes Kleidungsstück geworfen wurde. Auf der rechten Seite des Raumes, dem Fenster gegenüber, liegt, auf einem drei mal drei Meter großen Stück hellgrauen Teppichbodens, eine mit einem weißen Laken bezogene Matratze. Linksseits dieser improvisierten Schlafstelle befinden sich ein silbernes Kofferradio und, in die Zimmerecke gelehnt, ein Paar hölzerne Krücken, rechts davon eine Vase mit gelben Tulpen, eine leere Sektflasche, eine Thermoskanne, ein Zeitschriftenstapel, außerdem ein weißes Spülbecken, auf dessen Rand eine Dose mit Rasierschaum steht. Neben dem Ausguß hängt ein rosafarbenes Handtuch, darunter stehen ein Blecheimer und eine leere Waschschüssel. Auf der Matratze lagert, an zwei Kissen gegen die Wand gelehnt, teilweise von einer grauen Wolldecke umhüllt, ein ungefähr zwanzigjähriger blonder Mann. Er ist unbekleidet, wobei sein Oberkörper und sein rechtes Bein von dicken Verbänden umwickelt sind. Ein blaues Auge, aufgeschlagene Lippen sowie Heftpflaster an Hals und Stirn zeugen zudem von den schweren Gesichtsverletzungen, die er letzthin erlitten hat. Ein rotes, in seinem Schoß plaziertes Plastiktablett ist mit den Resten eines Frühstücks beladen: einem leeren Wasserglas, einem Eierbecher mit ausgelöffelter Schale, einem Marmeladenglas und zwei unbedruckten Papiertüten, die vermutlich Gebäck enthielten. Mit der rechten Hand führt der junge Mann eine weiße Tasse zum Mund, aus der er vorsichtig trinkt. Neben ihm kniet eine etwa gleichaltrige Frau in einem locker geschnittenen, taubenblauen Overall mit hochgekrempelten Ärmeln. Sie trägt schwarze Pumps, ihr glänzendes, dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar, seitlich gescheitelt und über den Ohren mit zwei Spangen locker gebündelt, fällt offen bis auf ihre Hüften herab. An der Wand hinter dem Paar prangt eine Reihe von, mit Kreide oder Filzstift aufgebrachten, Schriften: »Freiheit für Grönland – nieder mit dem Packeis«, »Aber subito!«, »Corinna was here«, »Voburka for ever«, »Heute letzter Tag«, sowie »Baby, Baby meine Nerven sind heiß – und du so kalt wie Eis«, letztere eingefaßt von einem roten Herz, das ein Pfeil durchbohrt. Die Frau küßt den Mann, ihren langjährigen Freund, einen Kleinkriminellen, der kürzlich aus dem Gefängnis ausgebrochen ist und sich nun nicht nur vor der Polizei verstecken muß, sondern auch vor seinen früheren Komplizen, die bereits einen Versuch unternommen haben ihn umzubringen, zärtlich auf die Wange, während sein Blick auf die Mattscheibe des Fernsehapparates gerichtet ist, der, vis-à-vis der Bettstatt, auf der Sitzfläche eines dritten Klappstuhls steht. Er verfolgt einen Bericht über den geheimen Drahtzieher seiner gesetzeswidrigen Aktivitäten, einen gut betuchten Geschäftmann, der im übrigen auch der Liebhaber der neben ihm knienden jungen Frau ist. In Kürze wird der junge Mann, zutiefst gedemütigt und um jede Zukunftshoffnung gebracht, an seinen Widersachern selbstmörderische Vergeltung üben.

23. Juni 2022

Von Männern, Frauen und allen anderen

Drei Filme von Blake Edwards

Blake Edwards, der in wenigen Wochen 100 Jahre alt geworden wäre, war einer der kommerziell erfolgreichsten Hollywood-Regisseure seiner Generation (Pink!) – und hat zudem einige der größten Flops der Filmgeschichte auf der Rechnung. (Seine musikalische Spionagedramödie »Darling Lili« brachte Paramount an den Rand des Bankrotts.) Edwards’ Karriere war eine Art Wechselbad von Triumph und Desaster, was dem Umstand geschuldet sein mag, daß die Mogule der Traumfabrik, die einfach nur einem Komödienlieferanten wollten, sich einem genialischen, bisweilen genialen Künstler gegenüber sahen. Wundersamerweise rappelte sich Edwards, wie die Helden seiner atemberaubenden Slapstick-Farcen, trotz aller Schlappen immer wieder auf und schüttelte nonchalant Meisterwerke aus dem Ärmel, so zum Beispiel Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als er eine besonders gute Strecke hatte. Once upon a time ...


1979 | »10« (»Die Traumfrau«)

»I don’t like ... middle age.« George Webber (Dudley Moore), erfolgreicher Komponist eingängiger Songs (»I’m very big in elevators.«), Bewohner einer schmucken Villa in Beverly Hills, liiert mit der selbstbewußten Sängerin Sam (Julie Andrews), trägt schwer an der Tatsache, 42 geworden zu sein. Alles um ihn herum duftet nach Jugend, Anmut, Sex, George fühlt sich alt, alt, alt. »He’s just going through male menopause«, meint sein bester Freund, der Textdichter Hugh (Robert Webber), der sich der Gesellschaft eines knackigen (wenn auch flatterhaften) Lovers erfreut. Die Midlife-Crisis wird akut, als George die (in seinen Augen) makellos schöne Jenny (Bo Derek) erblickt, sich seine unbestimmte Sehnsucht (nach Leidenschaft? nach Unschuld? nach Erlösung?) mithin leibhaftig manifestiert: »She was the most beautiful girl I had ever seen.« Dumm nur, daß sich das betörende Objekt der Begierde gerade auf dem Weg zum Traualtar befindet ... Edwards’ »romantische Komödie« (die eher einer wehmütigen Klamotte gleicht) zeichnet das ebenso nachsichtige wie gnadenlose Portrait eines Mannes in den zweitbesten Jahren, eines Mannes, der sich seiner selbst nicht mehr sicher ist, der nicht weiß, wer er ist, was er will, wo (und ob) er steht. Ziemlich unbarmherzig blickt Edwards daneben auf die Welt, in der George lebt, in der er versucht, er selbst zu sein, zu bleiben oder (wieder) zu werden, eine Welt der monotonen Oberflächenreize, der fremdbestimmten Libertinage, der wortreichen Sprachlosigkeit, eine Welt, die Prokofjew und Ravel zu Anbietern von Fickmusik degradiert. Was bleibt da der getriebenen Seele, nach vielen Irrungen und Wirrungen? Die Bejahung des Unvermeidbaren: nach Hause gehen, älter werden, sich lieben lassen. Nicht das Schlechteste, möglicherweise. PS: »Nobody’s perfect.« – »Thank God.«

1981 | »S.O.B.« (»Hollywoods letzter Heuler«)

»I am going to show my boobies. Are you here to see my boobies?« Keine andere als Julie Andrews (der asexuelle Unschuldsengel aus »Mary Poppins« und »The Sound of Music«) ist es, die diese freimütigen Sätze spricht – in Edwards’ autobiographisch grundierter und dabei erfrischend herzloser Hollywood-Satire (deren rätselhafter Titel ein Akronym für den Begriff »standard operational bullshit« darstellt) spielt sie Sally Miles, Ehefrau und Star des zum ersten Mal glücklosen Produzenten Felix (!) Farmer (Richard Mulligan), der mit Werken wie »Love on a Pogo Stick«, »Invasion of the Pickle People« oder »Odyssey of Pain« reich und berühmt wurde. Nach der Mega-Pleite seines jüngsten Streifens, des zuckrigen Musicals »Night Wind«, unternimmt er zunächst mehrere Versuche sich zu entleiben, dann erkennt Felix in einem Moment der Erleuchtung das Problem: »We sold them schmaltz, they prefer sadomasochism.« Er beschließt, dem Publikum zu geben, was des Publikums ist, und die blitzsaubere Familienunterhaltung (»Polly wolly doodle all the day!«) mit reichlich äußeren Werten zu pimpen. Edwards sublimiert seine eigene Höllenfahrt über die Fließbänder der Traumfabrik zu einem alptraumhaft-burlesken Sex-Lügen-und-Zelluloid-Sittenbild, das weder falsche geschmackliche Rücksichten nimmt, noch vor echter Sentimentalität zurückscheut. Neben Andrews’ Brüsten (ja, sie hat welche) brillieren William Holden als zynisch-loyaler Regisseur, Robert Preston als weltklug-vitaminverspritzender Modearzt, Robert Webber als sensibel-hysterischer PR-Mann, Robert Vaughn als beinharter Studioboß im Fummel und Shelley Winters als Agentin, die jede Schweinerei befürwortet, wenn sie nur »künstlerisch gerechtfertigt« ist. PS: »Fare thee well, fare thee well, fare thee well, my fairy fay.«

1982 | »Victor/Victoria«

»A woman pretending to be a man pretending to be a woman?« – »Ridiculous!« –»Preposterous!« – »In fact it’s so preposterous no one would ever believe it.« Paris, im Winter 1934: Die englische Opernsängerin Victoria Grant (glam: Julie Andrews) ist am Ende – kein Engagement, kein Geld, keine Aussicht auf eine warme Mahlzeit. In dieser Situation kommt ihr Leidensgenosse, der Chansonnier Carroll »Toddy« Todd (camp: Robert Preston), auf eine ebenso absurde wie glorreiche Idee: Aus der arbeitslosen Diva wird der schwule polnische Graf Victor Grazinski, der in seinem Land als Travestiekünstler angeblich eine Berühmtheit ist und sich als solche/r nun anschickt, die Nachtclub-Bühnen von Gay Paree zu erobern. Die Rechnung geht auf – Victor/ia wird über Nacht zum Star –, dann aber taucht in Person des Chicagoer Unterweltlers King Marchand (tough: James Garner) ein Herzkönig auf, der das geschlechtliche Rollenspiel zum emotionalen Drahtseilakt macht: »Crazy world / full of crazy contradictions.« ... Edwards nimmt das Thema der sexuellen Identität nicht ernster als nötig, plakative Showeffekte sind ihm allemal wichtiger als subtile Introspektion, Klischees bedient er im gleichen Maße wie er sie unterläuft, Stereotype werden im selben Moment absichtlich genutzt und spöttisch entlarvt. Bissige Dialoge, groteske Slapstickeinlagen, nostalgisch-elegante Panavision-Bilder (Dick Bush), stylisch-opulelente Art-Déco-Kulissen (Rodger Maus) und schwungvoll-ironische Revue-Nummern (Henry Mancini) fügen sich zu einer romantisch-musikalischen Komödie über Schein und Sein, zu einem deliziösen Cocktail aus Glamour und Esprit, Doppelbödigkeit und Demaskierung. PS: »Au revoir.« – »Me too.«

6. Februar 2022

L’homme qui aimait (plus que) les femmes

Zum 90. Geburtstag von François Truffaut : 9 Lieblingsszenen.

Jules et Jim : Cathérine singt »Le tourbillon de la vie«.

La peau douce : Pierre Lachenay und Nicole Chomette beäugen sich im Aufzug.

La mariée était en noir : Julie Kohler klebt Clément Morane die Luft ab.

Baisers volés : Christine Darbon erklärt Antoine Doinel, wie man einen Zwieback mit Butter bestreicht, ohne daß er zerbricht.

La nuit américaine : Regisseur Ferrand und Produzent Bertrand formen einen Butterklumpen, um die Nerven ihrer Hauptdarstellerin Julie Baker zu beruhigen.

L’argent de poche : Grégory macht »boum«.

L’homme qui aimait les femmes : Bertrand Morane erinnert sich an seine Mutter.

Le dernier métro : Lucas Steiner liest Zeitung und macht seiner Frau Marion ein Kompliment: »Hier steht etwas über dich ... ›Die Juden nehmen uns die schönsten Frauen weg.‹«

Vivement dimanche! : Barbara Becker versucht, anschaffen zu gehen.

1. Januar 2022

Schwarz sehen (8)

Drei Nachkriegsfilme von Yves Allégret (1907-1987)

1948 | »Dédée d’Anvers« (»Die Schenke zum Vollmond«)

Ein fatalistisches Hafenmelodram, ein nebelumschleiertes Notturno in der poetisch-realistischen Tradition von Carné und Prévert: Die wehmutsvolle Dirne Dédée (Simone Signoret) – von ihrem Luden Mario (Marcel Dalio als larmoyanter Macho) nach Strich und Faden ausgenutzt, von Monsieur René (Bernard Blier als beherzter Schankwirt des Amüsierschuppens ›The Big Moon‹) still verehrt – erwartet von den Männern nichts mehr außer ihrem Geld. Allégret zeigt seine Protagonistin (auf Stöckelschuhen und im Marabumantel) als leicht ramponierte Schönheit, der nur, wenn die verdammten Kerle sich in den schummerlichtigen Straßen von Antwerpen gegenseitig blutig schlagen, ein befriedigtes Lächeln über das verlockend aufgeschminkte Gesicht huscht. Die Liebe zu dem italienischen Kapitän Francesco (Marcello Pagliero als ehrbarer Schmuggler) trifft Dédée wie eine Hoffnungsstrahl, mit der unerwarteten Begegnung scheint sich für sie das Tor in eine bessere Zukunft zu öffnen. Doch die Gesetze des Rührstücks wollen es anders: Eifersucht lodert, Schüsse fallen, ein Toter sinkt auf das naßglänzende Pflaster des Quais. So symbolisiert der Hafen nicht den Ort eines möglichen Aufbruchs sondern eine finstere Sackgasse, aus der auch kaltblütige Rache keinen Ausweg weist.

1949 | »Une si jolie petite plage« (»Ein hübscher kleiner Strand«)

Ein kleiner Flecken am Meer, ein verlassener Strand im Winter, ein schwarzes Drama unter endlosem Regen. Ein junger Mann (Gérard Philipe), einsam und unendlich traurig, kommt zur Unzeit (»En été, c’est une si jolie petite plage.«) als Gast in den trostlosen Badeort. (Ist es eine Flucht? Ist es eine Rückkehr? Oder beides?) Er sucht Ruhe und Vergessen, findet jedoch nichts als Trübsinn und quälende Erinnerungen. Nach und nach, in flüchtigen Blicken und beiläufigen Dialogen, durch alltägliche Geräusche und ein schmalziges Chanson, in Szenen, die wie Spiegelungen einer häßlichen Vergangenheit erscheinen, enthüllt sich die Vorgeschichte des rätselhaften Besuchers: Da sind ein geschundener Waisenjunge und der Glaube an einen Ausweg, eine schöne Frau und das trügerische Versprechen auf Glück, und da ist – ein Mord. Allégrets Film über die Nachsaison des Lebens, ein kleines Meisterwerk des poetischen Pessimismus (von Henri Alekan erlesen in schwermütigstem Schwarzweiß fotografiert), macht wenig Hoffnung auf ein besseres Morgen und erlaubt (fast) keine Illusionen über das Wesen der Menschen: Im großen und ganzen sind sie alle so gemein wie die Hotelwirtin (Jane Marken), die sich für ihr lausiges Städtchen ein Tuberkulose-Sanatorium wünscht – denn die Schwindsucht ist (wie übrigens die Bosheit) eine Krankheit, die dauert …

1950 | »Manèges« (»Eine Frau im Sattel«)

»C’est pas possible ... c’est pas possible ... c’est pas possible.« Robert (Bernard Blier), Besitzer eines Reitstalls in Neuilly, nicht weit vom Bois de Boulogne, steht kummervoll am Krankenbett seiner geliebten Frau Dora (Simone Signoret), die bei einem Unfall lebensgefährlich verletzt wurde. Am Vorabend der allesentscheidenden Operation vernimmt er aus dem Mund seiner Schwiegermama (Jane Marken) die wahre Geschichte seiner Ehe: Von Anfang an war der Gatte für seine Angetraute und deren Mutter (die nichts dabei findet, die eigene Tochter, gleich einer Zuhälterin, legitim anschaffen zu schicken) lediglich ein williger Goldesel, ein Einfaltspinsel, der das schrille Hohngelächter, das ihm entgegenschallt, für fröhliche Wertschätzung nimmt. »Les femmes et le patin« könnte dieses schwarzgallige (bisweilen geradezu karikaturenhafte) Sittendrama über die Abgründe weiblicher Berechung heißen – aber handelt es sich um einen misogynen Film? Wohl eher um ein zutiefst misanthropisches Werk: Kommen Frauen als raffgierige Schlangen oder verlogene Luder daher, zeigen sich Männer als blinde Trottel oder lüsterne Strolche. In der lichtlosen Welt des Yves Allégret sind die Menschen nicht nur von Gott und allen guten Geistern verlassen, sie scheinen auch nichts Besseres verdient zu haben.