28. Oktober 2012

Schauen und Spielen

Kino | »Vous n'avez enrore rien vu« (»Ihr werdet euch noch wundern«) von Alain Resnais (2012)

Ein unlängst verstorbener Dramatiker bittet testamentarisch eine Gruppe von befreundeten Schauspielern (Michel Piccoli, Sabine Azéma, Pierre Arditi, Lambert Wilson, Anny Duperey, Mathieu Amalric u.v.a. spielen sich selbst) in sein prachtvolles Haus auf dem Land. Die Akteure und Aktricen sollen die Probenaufzeichnung eines seiner Stücke begutachten, eines Stückes, in dem jeder der Geladenen einst eine Partie übernahm. Schnell werden die Darsteller durch den Mitschnitt der aktuellen Inszenierung von ihren Rollen wieder in Besitz genommen, stimmen in die bekannten Dialoge ein, verwandeln sich in die vertrauten Figuren, und bald schon laufen verschiedene Interpretationen des Textes parallel … Alain Resnais arrangiert ein elegantes Spiel der Möglichkeiten, eine komplexe Versuchsanordnung mit doppeltem, dreifachen, vielfachen Boden: »Vous n’avez encore rien vu« nutzt ein fast vergessenes Drama, Jean Anouilhs »Euridice«, eine Modernisierung der Orpheus-Sage aus dem Jahr 1941, um Zeitebenen zu schichten, um Kulissen zu schieben, um Schauspielern eine filmische Arena für das Herstellen von Emotionen, für das Erkundung von Gefühlswelten, für die Verlebendigung von Worten zu bereiten. Resnais, geistreicher Kinomagier und spöttischer Entzauberer seiner selbst, variiert trickreich sein Lebensthema »Erinnern und Vergessen«, setzt die Dauerhaftigkeit des Mythos gegen die Flüchtigkeit künstlerischer Auffassung, verbindet kreative Strenge und ironische Distanz, läßt Parallelen im unendlichen Raum der Bühne aufeinandertreffen: Glück und Leid und Liebe und Tod und Scherz und Ernst und Einsicht und Blindheit und Jugend und Alter und Ewigkeit und Wandel … das uralte Theater der Welt und seine immerneue Aufführung.

24. Oktober 2012

Bildnis einer Unbekannten

YouTube | »Nachrede auf Klara Heydebreck« von Eberhard Fechner (1969)

»Auf der Suche nach einem Menschen, den es nicht mehr gibt.« Am 10. März 1969 stirbt in Berlin-Wedding, Grüntaler Straße 59a, kleiner Aufgang, vierter Stock, eine alte Frau durch eine Überdosis Schlaftabletten. Einer von jährlich 13.000 Selbstmorden in Deutschland. Wer war die Frau? Wie hat sie gelebt? Warum wollte sie sterben? Klara Heydebreck wurde am 16. Juli 1896 geboren. Sie war evangelisch, ledig, hatte keine Kinder. Über fünfzig Jahre lebte sie im selben Haus. Dort sagt man über sie: »Die kenn ick ja jar nich.« »Sie hat ja kaum mit jemand jesprochen.« »Im Haus hat sie jar nich Kontakt jehabt.« »Die wohnte sehr zurückgezogen.« Der Regisseur Eberhard Fechner will mehr über diese Frau erfahren. Aus Erzählungen von Verwandten und Nachbarn, aus Berichten von Ärzten und Amtsträgern, aus dem minutiösen Studium von Briefen, Fotografien, Zeugnissen, Notizheften, Sparbüchern rekonstruiert »Nachrede auf Klara Heydebreck« eine Biographie, legt so die familiäre, soziale, materielle, psychologische Basis einer Existenz unter konkreten historischen Bedingungen bloß. Aussagen und Dokumente fügen sich in der Montage der brillanten Schnittmeisterin Brigitte Kirsche zum Porträt einer eigenwilligen, neugierigen, selbstbestimmten, kunstsinnigen Frau, die zur unverstandenen, schrulligen, ängstlichen, abgesonderten Alten wurde – weil sie die (auch über sie) herrschenden Umstände nie beeinflussen konnte, weil sich das Leben den Vorstellungen, die sie von sich und ihrem Dasein hatte, hartnäckig entzog. Daß Klara Heydebreck ausgerechnet wegen ihres einsamen Freitodes die teilnahmsvolle Aufmerksamkeit, welche sie zu Lebzeiten kaum je genoß, in Form eines herausragenden Dokumentarfilms zuteil wird, darf als bittere Ironie aber auch als späte Gerechtigkeit begriffen werden.

22. Oktober 2012

Hinter der Wand ist vor der Wand

Kino | »Die Wand« von Julian Pölsler (2012)

Eine Frau (Martina Gedeck) begleitet ein befreundetes Ehepaar in dessen Jagdhaus im Gebirge. Die Freunde gehen ins Dorf, um eine Besorgung zu machen. Sie kommen nicht zurück. Am folgenden Tag will die Frau, zusammen mit dem Hund Luchs, den Verschwundenen folgen. Auf dem Weg stößt sie gegen eine unsichtbare Wand. Eine übernatürliche Kraft schließt die Frau zugleich ein (in ein Tal zwischen majestätischen Bergen) und aus (von der Außenwelt, wo sich eine namenlose Katastrophe zu ereignen schien). »Die Wand« ist der Bericht der Frau über ihr isoliertes Leben hinter dieser Wand, ein Leben, das von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahreszeit zu Jahreszeit bäuerlicher, archaischer wird: säen, ernten, mähen, jagen in der Gesellschaft von Hund, Kuh, Katze, Krähe … Der Film »Die Wand« basiert auf dem Roman »Die Wand« von Marlen Haushofer, und wie kaum eine andere Literaturadaptionen zuvor bringt der Film von Julian Pölsler die Sprache des Romans zu Gehör. Die Stimme von Martina Gedeck intoniert die Schilderungen der Frau: Ruhig, mit fast protokollhafter Gleichmut beschreibt sie Momente von tiefer Erschütterung und grenzenloser Angst, Gefühle von Befremden und Befreiung, Situationen von magischer Schönheit und jäher Brutalität. Im Mit-, Zu- und Gegeneinander von Stimme und Bildern sowie in der geschickten Parallelführung von Bericht- und Ereignisebene liegen die Kraft der filmischen Erzählung, die das Irrationale ihrer Prämisse klugerweise nicht auflöst. Ob »Die Wand«, dieses radikale Anti-Idyll, eine Parabel auf die existenzielle Einsamkeit des Menschen ist oder die Allegorie einer Depression oder ein Menetekel globalen Unheils oder das Dokument einer Emanzipation oder eine ins surreale gewendete Heimaterzählung – es bleibt dem Betrachter vorbehalten, seine Schlüsse zu ziehen, und angesichts der überwältigenden Eindrücke von Wald und Wiese, Sonne und Schnee, Himmel und Stein das (sein) Verhältnis von (zu) Freiheit und Gefangenschaft, von (zu) Weite und Beschränkung, von (zu) Mensch und Tier, von (zu) Zivilisation und Natur zu reflektieren.

19. Oktober 2012

Ansichten einer Geisterstadt

Drei überwirkliche Berlin-Filme

Dämonische Leinwand
| »Anita – Tänze des Lasters« von Rosa von Praunheim (1987)

»Ich habe den Tod getanzt!« Eine hochbetagte Fregatte (Lotti Huber) pöbelt durch die Fußgängerzone (Wilmersdorfer Straße) und streckt den Schaulustigen ihr leicht aus der Form geratenes Sitzfleisch entgegen: »Wer A sagt muß auch RSCH sagen!« Eine schockierte Passantin wimmert: »Das ist ja so schlimm. Die Frau ist doch krank.« … Einmal mehr verwischt Rosa von Praunheim die Grenze von schlechtem Geschmack und nackter Wahrheit – in diesem Fall, um vom kurzen Leben (und bleibenden Ruhm) einer legendären Berliner Nackttänzerin zu erzählen. Die exhibitionistische Seniorin, die von sich behauptet, Anita Berber zu sein, wird in die (schwarzweiße) Klapse verfrachtet, wo sie die Biographie der Zwanziger-Jahre-Ikone als (farbenfrohen) Stummfilm nachträumt: Anita, die vom Vater verstoßene kokainistische Körperkünstlerin, tanzt mit ihrem schwulen Geliebten Sebastian Droste die »Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase«, reüssiert als zeitgeistige Prophetin des wollüstigen Untergangs, als große Hure der bürgerlichen Spaßgesellschaft; dann gerät sie aus der Mode und verstirbt unter saftigen Gotteslästerungen (Rosa als Priester!) an galoppierender Schwindsucht im Kreuzberger Bethanien-Haus. Praunheim entwirft (begleitet von der ironisch-dramatischen Musik des Stummfilm-Vertoners Konrad Elfers) das kritisch-distanzlose Portrait eines absoluten Stars, eines Medien- und Verbrauchsprodukts, einer rigorosen Träumerin. »Eine sehr schwierige Frau«, meint der Nervenarzt (Mikael Honesseaau – spielt auch den verrufenen Droste) nach dem plötzlichen Herztod der alten Frau Kutowski alias Berber. Die Krankenschwester (Ina Blum – spielt auch die junge Anita) entgegnet: »Sie schien glücklich in ihrem Wahn.« In einem Wahn, der unsterblich macht.

Wiedergänge | »Gespenster« von Christian Petzold (2005)

Nina (Julia Hummer) hat keine Eltern, lebt im Jugendwohnheim, versinkt in Gedanken. Toni (Sabine Timoteo) treibt sich rum, ist immer unterwegs, nimmt sich, was sie braucht. Françoise (Marianne Basler) sucht, folgt Ahnungen, sieht überall ihre vor Jahren verschwundene Tochter Marie. Drei Wesen ohne Halt, ohne Platz, ohne Zeit: Gespenster. »Gespenster« erzählt einen Tag, eine Nacht und einen weiteren Tag: Françoise streift durch Berlin, Nina und Toni begegnen sich im laubrauschenden Tiergarten, die introvertierte Parkputzerin und die impulsive Diebin hauen zusammen ab, Françoise trifft auf Nina, erkennt wieder einmal Marie, und tatsächlich trägt Nina die Erkennungszeichen, die Narbe am Fuß, das Muttermal auf dem Rücken … Die drei Figuren (einige andere treten episodisch hinzu) umkreisen sich, schweben aufeinander zu, gleiten aneinander vorbei, bewegen sich im Geistertanz durch eine traumhaft-entfremdete Stadt. Die spröde Faszination des Film entsteht durch die akkurate Abbildung der Wirklichkeit bei gleichzeitiger Abwesenheit von greifbarer Gegenwart – irrealer Realismus, fokussierte Schemenhaftigkeit. Christian Petzold (Regie und Buch) und Hans Fromm (Kamera) betrachten den Park wie einen Wald, die Stadt wie einen Irrgarten, zeigen alltägliche Orte als »Hallräume der Seele«, folgen Phantomen durch ihre Sehnsüchte und Erinnerungen, erzählen ein geheimnisvolles Metropolen-Märchen vom Verlieren des Weges, vom Verschwinden in sich selbst, vom Jenseits im Diesseits.

Blut | »Wir sind die Nacht« von Dennis Gansel (2010)

Das Babel der Easyjetter als Kulisse einer modern-mondänen Vampirschmonzette: Die elegante Blutsaugerin Louise (Nina Hoss) rekrutiert auf der Tanzfläche eines Berliner Clubs Nachwuchs in Gestalt der streetsmarten Prekariatstochter Lena (Karoline Herfurth), die ihrerseits Gefallen an dem feschen Polizisten Tom (Max Riemelt) findet … Dennis Gansel rührt Versatzstücke aus stilbewußten (Gegen-) Klassikern des Genres (wie »The Hunger«, »Near Dark« oder »Interview with the Vampire«) routiniert zusammen und inszeniert das Potpourri, nicht ohne formales Geschick, als hochglänzendes Blut-und-Moden-Melodram, als flotte nächtliche Sightseeing-Tour durch die internationale Partyhauptstadt. Dem wummernden Mythos der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts soll (zumindest filmische) Unsterblichkeit angedeihen, während interessante Themen(-paare) wie Vergänglichkeit und Dauer, Sex und Gender, Verschmelzen und Emanzipation nur im Vorbeiflug angerissen werden. Ohne Anspruch auf tiefere Bedeutung bietet »Wir sind die Nacht« immerhin gelungenen High-End-Trash made in Berlin: Sei Kiez, sei Kult … Eigentlich fehlt nur ein Gastauftritt von Klaus Wowereit.

8. Oktober 2012

Viersektorenblues

Sieben Berlin-Filme der 1980er Jahre

»Ich fühl’ mich gut. / Ich steh’ auf Berlin.« (Ideal)


Horror | »Possession« von Andrzej Zulawski (F & BRD 1981)

Bröckelnde graue Fassaden, daneben farbenfrohe Neubaumontrositäten, drumherum eine Mauer aus Beton – der unheimliche Ort (West-)Berlin: Endstation, Grenzposten, Höllentor. »Don't open! Don't open! Don't open! Don't open! Please don't open!« In einem versifften Kreuzberger Salon mit Blick auf den Todesstreifen treibt es Isabelle Adjani (= Anna) mit einem schleimigen Ungeheuer. In einem (zunächst) cleanen Weddinger Apartment vergeht Sam Neill (= Mark) vor Eifersucht. In einer weitläufigen Charlottenburger Altbauetage sonnt sich Heinz Bennent (= Heinrich) im Glanze seines vergangenen Ruhmes als bester aller Liebhaber. Doppelgänger treten auf. Schwule Detektive sehen zuviel und sterben grausame Tode. Ein kleiner Junge übt Luftanhalten in der Badewanne. Eine alte Frau sorgt sich um die Seele ihres Sohnes. »Possession« ist: theologischer horror flick (»Do you believe in God? It’s in me.«), bestialischer Liebesfilm (»He made love to me all night.«), verrätseltes Polit-Melodram (»What I miscarried there was sister Faith, and what was left is sister Chance.«), entzündete Ehegeschichte (»No one is good or bad, but if you want, I'm the bad one.«). Andrzej Zulawski treibt seine Akteure über schwankendes Terrain hinaus aufs offene Feld der Raserei – Neill, der einen Schaukelstuhl zur Wippe der Irrsinns werden läßt, Bennent, der umnachtet durch eine Treppenhaus tanzt, Adjani, die auf einem nächtlichen U-Bahnhof schreiend, zitternd und zuckend ein unaussprechliches Etwas zur Welt bringt: »Goodness is only some kind of reflection upon evil. That's all it is.« PS: Und dann ist da noch der Mann mit den rosa Socken …

Kindheit | »Sabine Kleist, 7 Jahre« von Helmut Dziuba (DDR 1982)

Seit dem Unfalltod ihrer Eltern lebt Sabine Kleist im Kinderheim. Als ihre geliebte Erzieherin Edith (Simone von Zglinicki) das Heim verläßt, weil sie selbst ein Kind erwartet, ist die Siebenjährige zutiefst gekränkt. Sie schlägt nach Ediths dickem Bauch und läuft fort. Zwei Tage und zwei Nächte ist Sabine allein in (Ost-)Berlin unterwegs: Sie reitet auf einem Zirkuspferd über die Karl-Marx-Allee, sie liest am Alexanderplatz einen verlorenengegangenen polnischen Jungen auf und planscht mit ihm im Brunnen unterm Fernsehturm, in der Kaufhalle wird sie von einer boshaften Alten zu Unrecht des Keksdiebstahls bezichtigt, sie freundet sich mit dem frischpensionierten Witwer Karl (Martin Trettau) an, vor dem die Tristesse eines Rentnerdaseins im Plattenbau liegt … Regisseur Helmut Dziuba und Kameramann Helmut Bergmann beobachten die (von Petra Lämmel ergreifend gespielte) kleine Trebegängerin – ihre unverdorbene Neugier und ihre spröde Schnoddrigkeit, ihre tiefe Einsamkeit und ihre fortgesetzten Versuche von Kontaktaufnahme – mit diskreter Sympathie und ganz ohne pädagogische Herablassung. Immer wieder sieht sich Sabine mit existentiellen Fragen konfrontiert: Warum wird auf einer Beerdigung Musik gespielt, wenn doch der Tote die Klänge gar nicht mehr hören kann? Oder: »Dürfen Erwachsene überhaupt weinen?« Aus dem nur scheinbar naiven Blickwinkel eines Kindes entsteht das Bild einer Gesellschaft, die längst nicht so nestwarm-solidarisch ist, wie sie es sich auf ihre Spruchbänder schreibt, und es entsteht die Ansicht der Stadt, die sich diese Gesellschaft gebaut hat. Nach der Übernachtung in einem Abrißhaus entschließt sich die Ausreißerin selbstbewußt, ins Kinderheim zurückzukehren. Niemand will wissen, wo sie war, was sie gemacht hat. Auf die nichtgestellte Frage könnte Sabine mit den Worten von Raymond Queneaus legendärer Göre ›Zazie‹ antworten: »Ich bin älter geworden.«

Grenze | »Meier« von Peter Timm (BRD 1986)

Ostdeutsch oder westdeutsch? Gesamtdeutsch! Eduard ›Ede‹ Meier, Malerbrigadier bei der KWV in Berlin, Hauptstadt der DDR, erbt 30.000 D-Mark und begeht Republikflucht, aber nur, weil er einmal um die Welt reisen will. Mit seinem teuer erkauften ›Behelfsmäßigen Personalausweis‹ besucht der frischgebackene Westberliner anschließend tagtäglich die alte Heimat in der anderen Halbstadt hinter der Mauer, um das volkseigene Renovierungswesen mit illegal importierter Rauhfasertapete zu revolutionieren … Peter Timm setzt eine hübsche, kleine, liebevoll lokalkolorierte Gesellschaftskomödie vom Wahnwitz der deutschen Teilung ins Werk: Vor Meiers subversiver Systemtreue, die ihn zum ›Helden der Arbeit‹ befördert, müssen am Ende sogar Parteisekretäre und Stasioffiziere kapitulieren, zumal sich die papierne Schmuggelware als Produkt aus Karl-Marx-Stadt erweist, das als devisen­bringender Export ausschließlich ins ›nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet‹ geht. PS: Rund ein Jahr nach der Premiere von »Meier« wird die Tapete zum Symbol des (noch nicht möglichen) politischen Wandels: SED-Chefideologe Kurt Hager lehnt für die DDR Reformen nach dem Vorbild Gorbatschows mit dem Worten ab: »Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?« ›Ede‹ Meier hätte vermutlich entgegnet: »Kommt auf das Muster an.«

Engel | »Der Himmel über Berlin« von Wim Wenders (BRD & F 1987)

Der Engel Damiel (Bruno Ganz) will nicht mehr nur von höchster Warte auf Dinge und Menschen schauen, nicht mehr nur in der reinen aber kalten Sphäre des Geistes leben, er will auch mal eine Tasse Kaffee trinken oder einer Frau an den warmen Busen fassen … Wim Wenders erzählt die Erdenfahrt des Himmelswesens als zwangspoetisches Kunstmärchen, nimmt sich alle Zeit der Welt, um seine hypothetischen Figuren voll deutschester Innerlichkeit über die Sehnsucht nach Kindschaft und die Tragweite von Erzählung, über Einsamkeit und Zugehörigkeit sinnieren (und deklamieren) zu lassen. Dabei geht es Wenders wie der von Damiel angeschwärmten Zirkusartistin Marion (pratschig: Solveig Dommartin), die auf breiten Schwingen durch die Manege fliegen möchte, und doch nur schwerfällig hin- und herbaumelt wie ein gerupftes Hühnchen: Er hebt nicht ab, egal wie heftig er mit den lyrischen Flügeln schlägt. Die (von Henri Alekan erlesen fotografierten) leeren Posen des Films bieten immerhin den Anlaß zu einer sorgfältigen Vermessung des mythischen Ortes Westberlin, eines jenseitigen Diesseits, das bald schon, von den Engeln verlassen, im Flugsand der Geschichte verrinnen wird: Die Brachflächen und den Mauerstreifen, den verschwundenen Potsdamer Platz und den angehaltenen Anhalter Bahnhof, die urbanen Provisorien und den allgegenwärtigen Rauhputz, den BMW-Pavillon am Kurfürstendamm und die gußeiserne Hochbahn am Gleisdreieck, die verplüschte Bar des Esplanade und die Würstchenbude am U-Bahnhof Güntzelstraße bewahrt »Der Himmel über Berlin« in ihrer ganzen traurigen, häßlichen, bisweilen phantasmagorischen Schönheit.

Querschnitt | »Linie 1« von Reinhard Hauff (BRD 1988)

»In jeder Großstadt bin ich zuhaus’, / nur dieses Nest hier halt ich nicht aus.« Lose verbunden durch ein dünnes Handlungsfädchen – naives Provinzmädel sucht in (West-)Berlin nach dem verlorenen Traumprinzen – reiht »Linie 1« (ziemlich wahllos) Songs und Szenen aus dem Leben einer gefühlten Weltstadt aneinander, mischt Sozialkritik und Sülze, Kabarett und Boulevard. Reinhard Hauffs Leinwandadaption des ›Grips-Theater‹-Musicals setzt auf betont künstliche Kulissen und eineindeutige Klischeetypen. Am besten funktioniert der Film, wenn er offen sentimental ist, etwa wenn das picklige Pummelchen Maria »Du bist schön, auch wenn du weinst!« singt, oder wenn ein Rentner mit rostiger Stimme den neuen Tag begrüßt: »Das Herz will zerspringen, die Seele verglüh’n, / wenn am Görlitzer Bahnhof die Linden blüh’n / und über die Mauer die Möwen zieh’n. / Es ist herrlich zu leben in Berlin.« Ansonsten verderben eine blasse Hauptdarstellerin, schlechte Playbacks, einfallslose Choreographien und fade Lichtführung viel vom Spaß, den die U-Bahn-Revue machen könnte; das Ergebnis der Bemühungen ist, bei allem produktionellen Aufwand, trotz Wilmersdorfer Witwen und Kontroletti-Tango, eine »Discoshow auf Provinzniveau«.

Liebe | »Coming Out« von Heiner Carow (DDR 1989)

»Im Kühlschrank brennt Licht. / Wo bin ich denn hier? / Ist alles so kalt, / ist alles so leer.« Philipp Klarmann (Matthias Freihof) ist Lehrer an der Ostberliner EOS »Carl von Ossietzky«. Er beginnt eine Beziehung mit seiner Kollegin Tanja (Dagmar Manzel). Bei ihr trifft Philipp einen Schulfreund wieder, seine erste Liebe, die nicht sein durfte, was sie war. Die Begegnung löst eine persönliche Krise aus, in deren Verlauf Philipp den jungen Matthias (Dirk Kummer) erst glücklich und dann unglücklich macht, um schließlich aus sich herauszukommen und damit zu sich selbst zu finden … Heiner Carow und seine Szenaristen Erika Richter und Wolfram Witt verfolgen nicht nur einfühlsam den Weg des Protagonisten zum eigenen Ich (ein Weg, der unter dem latenten Druck einer repressiven Wir-Gesellschaft um einiges schwieriger ist als angesichts überall herrschender Normativität sowieso schon), sie werfen auch, jenseits vom ironisch-melancholisch dargebotenen Kitsch und Flitter der schwulen Welt, scharfe Schlaglichter auf real-existierenden Konfliktstoff wie Ausländerfeindlichkeit und Homophobie, Probleme, die in der sozialistischen Menschengemeinschaft ansonsten lieber totgeschwiegen werden, und sie fangen in ihrem Defa-Spätwerk noch einmal mit Hingabe und Akkuratesse das graue Weltniveau der Hauptstadt der DDR ein: Aus den Bildern von schummrigen S-Bahnhöfen und pißgelbgefliesten U-Bahntunneln, aus den Ansichten von der nächtlichen Holzmarktstraße und der betriebsamen Ecke Schönhauser, aus dem Impressionen vom Cruising am Märchenbrunnen und vom Schlangestehen vor dem Konzerthaus am Platz der Akademie riecht es förmlich nach Hausbrand, nach Zweitakter-Abgasen, nach gehaßliebter Heimat. Daß »Coming Out« just an jenem Tag seine Uraufführung erlebte, als ein ganzes (halbes) Volk durch eine Mauer brach, ist einer der besseren Treppenwitze der Film- und Weltgeschichte. PS: »Wie ein Stern in einer Sommernacht / ist die Liebe, wenn sie strahlend erwacht.«

Tod | »Dr. M« von Claude Chabrol (BRD & F & I 1990)

»Gibt es ein Leben vor dem Tod?« M wie Medien. M wie Manipulation. M wie … Claude Chabrol begibt sich – in Berlin: wo sonst? – auf die Spuren seines Idols Fritz Lang und dessen Mega- und Metaschurken Mabuse. »Dr. M«, der letzte Film aus der geteilten Stadt, ist ein faszinierendes Endzeitprodukt: Berlin wird von einer rätselhaften Selbstmordwelle erfaßt. Menschen werfen sich vor S-Bahn-Züge, springen von Dächern, ersäufen sich in ihren Pools, rauschen mit Autos in die Schaufenster von Kaufhäusern. Die Behörden in Ost und West sind hilflos, Panik greift um sich, alles rennet, rettet, flüchtet. Ruhe bewahrt allein der immer lächelnde Dr. Marsfeld (Alan Bates), Chef der einflußreichen TV-Station ›Mater Media‹, Herr des ›Club Extinction‹, wo die Jugend zu stampfenden Rhythmen und Ansichten der zerbombten Reichshauptstadt ihr Glück im Vergessen sucht, Betreiber des Ferienparks ›Theratos‹ (≈ »Eros« + »Thanatos«), für den die schöne Sonja Vogler (Jennifer Beals) auf überdimensionalen Bildschirmen wirbt: »Es wird Zeit zu gehen. In ein besseres Leben zu fliehen.« Wie die letzten Werke von Fritz Lang gleicht auch »Dr. M« eher der Skizze eines Films, mutet an wie die szenisch eingerichtete Lektüre eines Drehbuchs: »Alles nur Oberfläche. Keine Substanz. Der Stoff, aus dem die Träume sind.« Die Figur des überlebensgroßen Verbrechers, der nichts anderes will als Zerstörung, die Persona des poetischen Nihilisten, der die Schönheit im Tod, dem einzig vollkommenen Zustand, sucht – sie paßt wohl an keinen anderen Ort der Welt so gut wie ins zerschnittene Berlin, an diese morbide Endstation der Geschichte: »Weder Täter noch Opfer. Das Flüchtige. Oder der Tod. Weder Zeit noch Ewigkeit. Ich bin die Mauer. Die Sehnsucht nach Frieden. Nach Schweigen. Nach Ruhe. Ich bin das Nichts. Ich hinterlasse uns nichts.« Aber das Rad dreht sich weiter. Auf den für ewig geglaubten Stillstand folgt – niemand außer den Dichtern hätte es für möglich gehalten – die Wiederauferstehung: »Es wird Zeit, nach Hause zu kommen. Zurück zum Leben.«

»… ›Berlin‹, dieses unheimliche Wort für einen unheimlichen Ort, der wie das Fegefeuer durchlaufen werden muß, um danach Ruhe zu finden …« (Marie-Luise Scherer)

5. Oktober 2012

Jenseits von Afrika

Kino | »Tabu« von Miguel Gomes (2012)

Aurora hatte eine Farm in Afrika. Nicht am Fuße der Ngong-Berge sondern am Fuße des Mont Tabu. Sie war eine stolze, eine schöne, eine leidenschaftliche Frau. Aber das erfährt man erst in der zweiten Hälfte des Films. Anfangs ist Aurora eine stolze, eine verbitterte, eine leicht verwirrte Alte, die in einem seelenlosen Apartmentblock am Rande von Lissabon lebt, die von Affen träumt, die ihr Geld regelmäßig im Casino verspielt, die ihrer stoischen schwarzen Hausangestellten Santa zur Last fällt, die das Mitleid ihrer helfersyndromatischen Nachbarin Pilar erregt. Ganz zu Beginn der Fabel, noch bevor man Aurora in ihrem weichgepolsterten Elend kennenlernt, geht Pilar ins Kino. Der Film zeigt einen traurigen Forscher, der das dem weißen Mann noch unbekannte Afrika durchstreift. Der Forscher ist traurig, weil seine Frau gestorben ist. Die Tote erscheint dem traurigen Forscher als Geist. Der traurige Forscher stürzt sich in den Fluß und läßt sich von einem Krokodil fressen. Das nunmehr traurige Reptil und der ruhelose Geist der Toten werden zu legendären Figuren in der Mythologie der Eingeborenen. Später, nachdem mit geduldiger Gleichmut und staubtrockener Ironie (unter der Kapitelüberschrift »Vertreibung aus dem Paradies«) einige Tage aus dem tristen Leben von Aurora, Santa und Pilar geschildert wurden, kehrt »Tabu« nach Afrika zurück, und es folgt eine zweite, ungleich dramatischere (Vor-)Geschichte: »Paradies«. In einer Rückblende entfaltet sich vor exotischer Kulisse, ohne Dialoge aber mit hörspielhaften Geräuschen, durchdacht-deplazierten Swingklängen und einem romanesken Off-Kommentar, die so unbändige wie unglückliche Romanze zwischen der verheirateten Plantagenbesitzerin Aurora und dem attraktiven Glückritter und Frauenheld Ventura. »Tabu«, eine kühne Produktion in schwarzweißem Normalbild, läßt sich auf vielerlei Weise goutieren: als virtuoses Spiel mit Genremotiven und den formalen Mitteln der Kinematographie, als süffisantes Portrait des alten Europa (am Beispiel Portugals), das in dünkelhafter Verarmung seinen großen Zeiten nachtrauert, in die es sich einst auf dem krummen Rücken der Kolonien hatte tragen lassen, und nicht zuletzt als üppig wucherndes, hintergründiges Erzählabenteuer – wobei es dem bild- und sprachmächtigen Fabulierer Miguel Gomes neben dem Erzählen von Abenteuern auch und vor allem um das Abenteuer des Erzählens geht.

2. Oktober 2012

Sein Leben leben (wollen)

DVD | »Der Rote Kakadu« von Dominik Graf (2006)

»Es ist herrlich in dieser großen Zeit des Sozialismus zu leben.« Dresden, Sommer 1961, ein paar Monate vor dem Mauerbau: Der (mit dem Drang zum Höheren gesegnete) junge Theatermaler Siggi verliebt sich in die (von der Staatsmacht verhinderte) junge Dichterin Luise, die mit dem (wild in den Tag hineinlebenden) jungen Arbeiter Wolle verheiratet und (trotz dessen erotischen Eskapaden) emotional aufs Engste verbunden ist. Die spannungsvolle Dreierkonstellation bildet zwar den dramaturgischen Kern des Films, aber »Der Rote Kakadu« ist in allererster Linie das Porträt einer Zeit, eines Ortes, einer historischen Situation und einer ganzen Reihe von Menschen, die zu dieser bestimmten Zeit an diesem bestimmten Ort in dieser bestimmten historischen Situation leben (müssen). Basierend auf einem Stoff des Regisseurs Michael Klier, der eigene (Jugend-)Erinnerungen zu einem Drehbuch verarbeitete, umreißt Dominik Graf eine Welt zwischen hoffnungsvollem Aufbruch und revolutionärem Glücksanspruch auf der einen sowie ideologischer Determination und brutaler Angstmacherei auf der anderen Seite, eine Welt, die den Kosmos erobert und gleichzeitig die irdischen Grenzen verrammelt, eine Welt, in der die Wunden, die der Krieg schlug, so präsent sind, wie die Verheißungen der Zukunft, wo der Glaube an die Liebe und an Bessere im Menschen so real ist wie das Wissen um Vergänglichkeit und um die Möglichkeit des Verrats. Und dann ist da natürlich die Musik, die von der Combo im ›Roten Kakadu‹ gespielt wird oder auf der Wiese vom tragbaren Plattenspieler erschallt, die Musik, die Freiheit bedeutet, Selbstbestimmung und Herrschaftslosigkeit, die Musik als Utopie … Graf koppelt geschickt und schlüssig die Melancholie der Rückschau mit skurriler Situationskomik und krasser Dramatik, er blickt mit Feingefühl und Verständnis auf seine Charaktere: auf den schwulen Dramaturgen, den sein »Anderssein« auf politischen Kurs brachte, und auf die nymphomane Sekretärin, die, noch wenn sie die eigene Entlassung tippt, nur ihren Unterleib im Kopf hat, auf die kaputt-verzickte Schauspielerin, die die Vergangenheit in spiritistischen Sitzungen beschwört, und auf den enteigneten Unternehmer, für den es doch noch nicht zu spät ist. Und Graf liebt seine Hauptdarsteller, er liebt Max Riemelt, Jessica Schwarz und Ronald Zehrfeld, er widmet ihnen, ein halbes Jahrhundert nach der Neuen Welle, sein deutsch-deutsches »Sie küßten und sie schlugen sich«, sein »Dresden gehört uns«, sein »Schießen Sie auf das asoziale Element«, seine »Außenseiterbande«.

Vabanque

DVD | »System ohne Schatten« von Rudolf Thome (1983)

»Du siehst aus, als hättest du fünf Millionen auf dem Konto.« – »Hab’ ich auch.« Es wird viel gespielt in »System ohne Schatten«, Schach und Roulette, Katz und Maus, Rollen und Musik (u. a. von Laurie Anderson), es wird um Geld gespielt und um Gefühle, um alles und um nichts … Der Computerexperte Faber (Bruno Ganz) trifft, zufällig oder schicksalhaft, auf den undurchsichtig-charmanten Gauner Melo (Hanns Zischler) und dessen verführerisch-spröde Freundin Juliet (Dominique Laffin). Mit intellektueller und erotischer Raffinesse verwandelt das Paar (?) den introvertierten homo faber in einen wagemutigen homo ludens, der die Sicherheit der bürgerlicher Existenz gegen den Nervenkitzel einer kriminellen Karriere tauscht. Durch Fabers Fachkenntnis gelingt es dem Trio, eine Bank um mehrere Millionen zu betrügen: Geschickte Software-Manipulationen transformieren flirrende Ziffern auf einem Monitor in Bargeld auf einem Zürcher Nummernkonto. Ganz so einfach ist Verbrechen natürlich nicht, es gibt Komplikationen mit einer rivalisierenden Bande und emotionale Verwerfungen innerhalb des Gespanns. Auf die Abenteurer warten Flucht und Trennung, wo sie vielleicht von Ruhe und Zusammengehörigkeit träumten … Eine lakonische Krimikonstruktion, eine brüchige Liebesgeschichte, ein Westberliner Zwischenzeitbild, auf eine Art auch die kühle Coming-of-age-Story eines unfertigen Erwachsenen – mit der ihm eigenen empathischen Distanz zeichnet Rudolf Thome (nach einem Drehbuch von Jochen Brunow) den Weg seines unheroischen Helden aus dem tristen Novembergrau der Mauerstadt, aus dem Einerlei des Alltags ins stimulierende Risiko, ins blanke Weiß des Schweizer Winters. Am Ende erlebt der Spieler den Verlust von Einsatz und Gewinn, doch beendet er die Partie nicht als Verlierer: Er hat so etwas wie Freiheit erlangt, einen Moment des Glücks im fallenden Schnee, ein unbefangenes Lachen über den Dächern der Stadt. (Melo: »Vielleicht will überhaupt niemand mehr Werte schaffen. Vielleicht gibt es ganz andere Dinge, die wichtig sind.«)