30. August 2013

Die Dinge

Kino | »The Bling Ring« von Sofia Coppola (2013)

Eine Clique von Halbwüchsigen macht Bruch in den Promi-Villen von Los Angeles. Vier Mädchen und ein Junge klauen Schmuck, Klamotten, Schuhe, sie klauen (bei Paris Hilton, bei Megan Fox, bei Lindsay Lohan) sündteuren Marken-Krempel, aufgeladen mit der Talmi-Aura der Schlagzeilengesellschaft. Sofia Coppola folgt den jugendlichen Tätern ohne ironische Distanz, ohne Kritik an ihrem Verhalten, bemüht sich weder um soziopsychologische Deutung noch um ausgefeite Dramatisierung des (authentischen) Falles, zeigt einfach ein Plündershopping nach dem anderen, bis die Sache auffliegt, bis die Diebe gestellt, angeklagt, verknackt werden … Wieder ein typisch Coppola'scher Ausflug in die Gefilde funkelnder Langeweile, dröhnender Leere, luxuriöser Verzweiflung, wieder eine Irrfahrt von Kindern unserer Zeit durch himmlisch schöne, höllisch sinnlose Dingwelten. »The Bling Ring«, das ist Antonioni auf Louboutins, das ist ein in den Überfluß gewendeter Vittorio-de-Sica-Trip: Accessoires statt Fahrräder – Neo-Glam-Realismus für den Jahrmarkt der Eitelkeiten.

24. August 2013

Archibald Alexander Leach

Ein Stern

Ich hätte gerne ein Kinngrübchen wie Cary Grant. Ich wäre gerne so akkurat frisiert wie Cary Grant. Ich wollte, in meinem Schrank hingen nur perfekt geschneiderte Cary-Grant-Anzüge, diskret nadelgestreift oder Pfeffer-und-Salz-gemustert oder in edlem Blaugrau changierend oder mitternachtsschwarz, Anzüge, mit denen ich auf jedem Staatsbankett, in jeder Spielbank, bei jeder Entführung, in jeder Hotelbar, vor jedem Schlafzimmer, kurz: in jeder Lebenslage eine gute Figur machen würde. Ich wäre gerne immer so gesund gebräunt und ausgeschlafen, so charmant und ironisch, so weltgewandt und lässig, so sexy und sophisticated wie Cary Grant. Ich wünsche mir einen Autor, der mir für jede Gelegenheit den passenden Cary-Grant-Satz schreibt: »When I find myself in a position like this, I ask myself what would General Motors do? And then I do the opposite!« oder: »Dry your eyes, baby; it's out of character.« oder: »I may go back to hating you. It was more fun.« oder schlicht und einfach: »Hello friends and enemies.« Ich gäbe mein Leben dafür, in einem Cary-Grant-Film zu leben und diese schwerelose Cary-Grant-Mischung aus Screwball und Seriosität zu verkörpern, diesen unvergleichlichen Gentleman-Cocktail aus Chefredakteur und Hoteldieb, Geheimagent und Werbefachmann, Diplomat und Fliegerass, Glücksritter und Gehirnchirurg. In meinem Cary-Grant-Traum stelle mir vor, die tollsten Frauen für mich zu gewinnen, nicht irgendwelche austauschbaren Modepüppchen, sondern einmalige Erscheinungen, starke Charaktere, unsterbliche Legenden wie Katharine Hepburn, Ingrid Bergman, Grace Kelly, Sophia Loren, Audrey Hepburn. Im richtigen Leben würde ich wie Cary Grant gerne fünfmal heiraten, unter anderem das ärmste reichste Mädchen der Welt, das in seinem Märchenpalast in Marokko Feste wie aus Tausendundeiner Nacht feiert. Und außerdem würde ich wie Cary Grant mit meinem Freund, einem knackigen Westernstar, in einem schönen Haus mit Kaminzimmer, Swimmingpool und Boxring wohnen, und ich würde mich mit ihm beim Frühstück für die Klatschpresse fotografieren lassen, und wir würden lachen. Hätte ich keine Lust mehr zu arbeiten, hörte ich wie Cary Grant einfach damit auf. Mein volles Haar würde strahlend weiß werden, ich ginge auf Reisen, ich trüge eine dicke Hornbrille, ich würde später Vater einer süßen Tochter werden, ich bekäme einen Ehrenpreis dafür, daß ich Cary Grant war und bin und immer sein werde, und eines Tages, jenseits der achtzig, würde ich sterben, ganz plötzlich. Aber ich wäre nicht tot, ich würde, so lange die Erde sich dreht, Jerry Warriner, Johnny Case, Henri Rochard, John Robie, Roger O. Thornhill bleiben, würde bis zum Ende aller Tage die schreckliche Wahrheit sagen, die Schwester der Braut küssen, eine männliche Kriegsbraut sein, über die Dächer von Nizza klettern, den unsichtbaren Dritten jagen. Ich hätte gerne ein Kinngrübchen wie Cary Grant.

19. August 2013

Junge Leute in der Stadt

Drei verbotene Berlin-Filme der Defa

1965/1989 | »Das Kaninchen bin ich« von Kurt Maetzig (Regie) und Manfred Bieler (Buch)

»Sie säen nicht, sie ernten nicht, aber schmecken tut’s ihnen doch.« Weil ihr Bruder wegen staatsgefährdender Hetze zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wird, darf die 19jährige Maria Morzeck (Angelika Waller), trotz bestandener Reifeprüfung, nicht ihr Traumfach Slawistik studieren. Sie wird Servierfräulein in der rustikalen Gaststätte ›Alt-Bayern‹ am Oranienburger Tor. Maria ist eine echte (Ost-)Berliner Pflanze, frühreif, selbstbewußt, burschikos, schlagfertig – und eigentlich gar nicht kaninchenhaft. Aber dann verliebt sie sich, ausgerechnet, in den Richter ihres Bruders, der sich im Lauf der Zeit als aalglatter Karrierejurist erweist. Von den Verhältnissen blockiert, schlägt sich Maria – stellvertretend für viele – mit dem Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit herum, eine Diskrepanz, die auch im Sozialismus nicht überwunden ist … Erstaunlich, daß ausgerechnet Kurt Maetzig, Regisseur der rotgranitenen Thälmann-Epen, die Adaption eines Romans unternahm, der in der DDR nicht erscheinen durfte. Auch wenn so manche Unverblümtheit des Buches aus dem Szenarium getilgt wurde, auch wenn der Fokus des Films eher auf die private Beziehungsgeschichte gerichtet ist als auf eine breite Darstellung gesellschaftlicher Umstände, wirft »Das Kaninchen bin ich« einen recht kritischen und sympathisch lokalkolorierten Blick auf das real-existierende Leben im volksdemokratischen Deutschland vor und nach dem Mauerbau. Die Errichtung des »antifaschistischen Schutzwalls« erscheint dabei, ganz systemkonform, als Bedingung für bestimmte innere Entwicklungsmöglichkeiten, die es zuvor nicht gegeben hat. Im politischen Schutzraum hinter der Mauer kann sich Maria emanzipieren, hier kann sie erhobenen Hauptes in die Zukunft gehen: »Ich bleib nicht liegen. Ich steh wieder auf. Ich laß mir nicht das Fell über die Ohren ziehen. Ich bin nicht mehr das Kaninchen. Ich bin ’n alter Hase.«

Die Dreharbeiten zu »Das Kaninchen bin ich« fanden im Sommer 1964 statt. Der fertiggestellte und zugelassene Film erfuhr auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 scharfe (kultur-)politische Kritik und wurde zusammen mit elf weiteren Defa-Filmen des Jahrgangs verboten. Vielleicht weil Kurt Maetzig der prominenteste der ins ideologische Schußfeld geratenen Regisseure war, wurden die ins Archiv verbannten Streifen später als »Kaninchenfilme« bezeichnet. Maetzig drehte bis Mitte der 70er Jahre noch vier Spielfilme und eine Episode für den DDR-Jubiläumsfilm »Aus unserer Zeit«. »Das Kaninchen bin ich« erlebte seine Uraufführung im Dezember 1989 in der Ostberliner Akademie der Künste und wurde im Februar 1990 auf der Berlinale gezeigt.

1965/1990 | »Berlin um die Ecke« von Gerhard Klein (Regie) und Wolfgang Kohlhaase (Buch)

»Warum glaubt uns keiner?« will der junge Metallarbeiter Olaf (Dieter Mann) vom alten Redakteur der Betriebszeitung wissen. Es ist die zentrale Fragestellung des Films, der den Konflikt zwischen Selbstbestimmung und Einordnung, zwischen Wunsch und Wirklichkeit in einem fürsorglich-repressiven System beschreibt. Wo der Nachwuchs einfach nur leben, lieben, nach eigener Fasson selig werden möchte, sehen die Gründerväter sofort die Machtfrage gestellt. Wenn einer sagt, er sei nicht ganz so glücklich, wie es in der Zeitung stehe, heißt es: Sei dankbar. Regisseur Gerhard Klein und Autor Wolfgang Kohlhaase knüpfen Mitte der 60er Jahre noch einmal an ihre großen, neorealistisch beeinflußten Berlin-Filme der 50er an: präzise Alltagsbeobachtungen, plastische Milieustudien, vorurteilsfreie Porträts. Das Hauptproblem der DDR ist nicht länger die offene Grenze zum Westen, die Herausforderung liegt jetzt im Inneren: Wie macht man denn nun Sozialismus, wenn kein Klassenfeind mehr stört? Tja … Jenseits der zeitbezogenen gesellschaftspolitischen Thematik erzählt »Berlin um die Ecke«, schlicht und universell, von den Schwierigkeiten, sich – zwischen kleinen Fluchten und großen Flausen – in vorgegebenen Umständen zu orientieren, eine Haltung zu finden, kritisches Bewußtsein und Persönlichkeit zu entwickeln. Der Generationskonflikt kennt dabei keine Buhmänner: Auch die Probleme der Alten, mit Spannungen und Veränderungen zurande zu kommen, werden durchaus nachvollziehbar beschrieben. Und immer wieder erkundet die Kamera (Peter Krause) ganz konkret und sehr liebevoll die Stadt, den Kiez, Situationen gleich »um die Ecke«: das spießige Tanzlokal und die lärmende Werkhalle, das idyllische Strandbad und die Altbauten im Schatten der Stalinallee.

»Berlin um die Ecke« wurde im Sommer 1965 gedreht, die Fertigstellung des Films wurde nach dem 11. Plenum verboten. Gerhard Klein konnte danach nur noch einen Beitrag für einen Episodenfilm über den Mauerbau realisieren. Er starb 1970, erst 50jährig, während der Dreharbeiten zum Nachkriegskrimi »Leichensache Zernik«, der unvollendet blieb. »Berlin um die Ecke« wurde nach der Wende von Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase beendet, der fertige Film erstmals auf der Berlinale 1990 gezeigt.

1966/1990 | »Jahrgang 45« von Jürgen Böttcher (Regie) und Klaus Poche (Buch)

»Man wird älter. Findest du nicht auch?« Seit zwei Jahren ist Automechaniker Al mit Säuglingsschwester Li verheiratet. Er hatte sich die Ehe anders vorgestellt: »Man hat Wunder gedacht, wie alles kommt.« Nun ist er enttäuscht, hat das Gefühl, in seinem Zimmer »irgendwas Großes« zu verpassen, will das Unternehmen Zweisamkeit beenden, reicht die Scheidung ein. Sechs Wochen Überlegungsfrist verordnet das Gericht, und weil Al sowieso gerade Urlaub hat, nutzt er die Zeit, auf seine Weise: Er läßt sich durch Berlin treiben, vielleicht schwimmt ja die Erkenntnis vorbei … Regisseur Jürgen Böttcher ist bildender Künstler und Dokumentarfilmer, »Jahrgang 45« ist ein poetisch-realistisches, dem Augenblick abgeschautes und abgelauschtes Generationenporträt, auch ein Film über das Erwachsenwerden, über den Umgang mit Ernüchterung, über die Kunst, Kompromisse zu machen, ohne sich zu verleugnen. Wie gehen Menschen miteinander um, die von sich sagen, sie seien »nüchtern, sachlich, real und so«? Wie gestalten sie ihr Leben? Wie lieben sie? Wovon träumen sie? Wovor haben sie Angst? Böttcher und sein Kameramann Roland Gräf driften mit den Protagonisten (Rolf Römer und Monika Hildebrand in den Hauptrollen), auf der Erkundung von Gegenwart und möglicher Zukunft, durch Hinterhofwohnungen am Prenzlauer Berg und halbfertige Neubausiedlungen, über Trümmerberge am Stadtrand und holpriges Straßenpflaster, durch Museen und Tanzschuppen, Neugeborenenstationen und Bastelkeller. Keine planvolle Suche, eher ein tastender Weg, kein strenges Programm, sondern Aspekte und Perspektiven, Aussichten und – vielleicht – Einsichten.

Gedreht im Sommer 1966, wurde die Arbeit an »Jahrgang 45« im Stadium des Rohschnitts nach Einsprüchen der Hauptverwaltung Film des Ministeriums für Kultur der DDR beendet. Jürgen Böttcher (Künstlername als Maler: Strawalde) war bis zum Ende der DDR kontinuierlich für das Defa-Dokumentarfilmstudio tätig, inszenierte aber keinen weiteren Spielfilm. »Jahrgang 45« konnte erst nach der Wende fertiggestellt werden. Die Uraufführung fand im Februar 1990 auf der Berlinale statt.